ADHS ist häufig negativ konnotiert. Der typische Zappelphillip, der Rabauke, der Quatschmacher. Er* schafft nichts. Er stört. Er kann sich nicht konzentrieren oder zusammenreißen. Er ist schlecht in der Schule. Und zu vielen Kindern wird ADHS zugeschrieben. Denn dann hat es einen Namen, dann kann man es (mit Medikamenten) behandeln. Aber Medikamente sind doch eigentlich für Krankheiten, oder?

ADHS ist keine Krankheit

Aber ADHS ist keine Krankheit. Häufig sind Kinder und Erwachsene mit ADHS sehr wahrnehmungssensibel und können Umgebungsgeschehen schwerer selektieren und ausblenden, weil sie alle Reize, die auf sie einströmen, auch wahrnehmen.

Wenn im Deutschunterricht z.B. ein Schleichdiktat geschrieben wird, hat das Kind die Aufgabe, zum Text zu gehen, sich einen beliebig umfangreichen Teil gut zu merken, zum Heft zu gehen und diesen Teil dort aufzuschreiben. Auf dem Weg vom Text zum Heft passiert aber ganz viel: andere Kinder laufen herum, eines fällt hin, das Wort muss sich gemerkt werden, die Lehrerin kommt vorbei, das Wort muss sich gemerkt werden, draußen fährt ein Rettungswagen mit Sirene vorbei, es klopft an der Klassenzimmertür, das Wort muss sich gemerkt werden, die Lehrerin “schimpft” mit einem Mitschüler und immer noch muss sich das Wort gemerkt werden. Aber nicht nur das: Das Kind soll auch nicht vom Weg abkommen, das Wort leserlich und korrekt aufschreiben- sich also konzentrieren. Das ist viel verlangt für einen Menschen, der diese Nebenschauplätze und -geräusche nicht ausblenden KANN, sondern diese aktiv wahrnimmt. Für das jeder Reiz, egal ob Wort, das Geschimpfe der Lehrerin, oder das Stolpern des Schülers, gleich intensiv wahrgenommen werden.

Zu Hause haben Kinder dieses Problem häufig nicht, denn wenn sie sich mit Dingen beschäftigen, die sie interessieren, sind sie durchaus ausdauernd und konzentriert. Dabei ist es ersteinmal egal, ob es PC-Spiele sind, Comics, Bücher oder Lego- eine Konzentrationsfähigkeit besteht durchaus. Das Kind ist also nicht schlecht in der Schule- die Schule macht es schlecht.

Die Denkwege von Menschen mit ADHS verlaufen häufig nicht linear und “logisch”. Man kann sich die Gedankengänge eher wie ein Netz vorstellen. Viele Informationen von allen Seiten, durch alle kanäle kommend, verknüfen sich, während sich die Gedanken der meisten Menschen chronologisch, schlussfolgernd bilden. Während es für mich z.B. logisch ist, dass beim Schleichdiktat die Kinder den Text auch in Textform abschreiben, sprich die Wörter nebeneinander schreiben, ist es für ein Kind mit ADHS vielleicht logisch, die gemerkten Wörter in einer List untereinander zu schreiben. Während der Lehrer dann aus allen Wolken fällt, weil es der eigenen Vorstellung oder Logik nicht entspricht, versteht der Schüler gar nicht, wie und warum man es anders machen sollte, schließlich fertigt er doch eine Liste der gemerkten Wörter an.

Häufig treten Probleme von Menschen mit ADHS erst auf, wenn sie in die Schule kommen, sich dort Strukturen anpassen müssen, die überfordern oder Wege und Ziele voraussetzen, die sich dem Kind nicht erschließen. Dann werden sie schnell abgestempelt. Auch wenn die einzelne Schule natürlich kaum die Nebenimpulse vermeiden kann – außer durch Exklusion und Abschirmung- sollte ADHS auch als Ressource angesehen werden. Denn Schüler mit ADHS sind anderen Kindern häufig in einigen Bereichen überlegen.

Menschen mit ADHS sind häufig unter anderem kreativ, empathisch, spontan, flexibel, ehrlich, charmant, hilfsbereit, nicht nachtragend und einsatzbereit. Sie sind meist besonders begabt im IT- und digitalen Bereich. Dies kann allerdings einbrechen, wenn sich Frustration aufbaut. Das Gefühl sich anzustrengen, aber es doch nie zu schaffen, ohne zu wissen warum nicht, kann zu ernsthaften Begleitkrankheiten wie z.B. Depressionen führen.

Was bedeutet das für den Unterricht?

1) Zum einen sollten die Lehrer umdenken. Das Kind ist nicht unruhig, sondern es hat Energie (davon könnte ich z.B. mehr gebrauchen). Das Kind ist nicht vergesslich, sondern kreativ. Es ist nicht impulsiv, sondern hat eine hohe Auffassungsgabe.

2) Aufgaben geben, die das Kind liebt, ohne ihm diese als Strafe wegzunehmen: Es fasst immer und immer wieder das Smartboard an, obwohl man schon tausendmal gesagt hat, es soll das lassen? Dann kann es ab sofort und mit Erlaubnis das Smartboard bedienen.

3) Verschiedene Zugänge ermöglichen: Während es vielen Kindern genügt, eine Aufgabe erklärt zu bekommen um zu wissen, was zu tun ist, benötigen Kinder mit ADHS verschiedene Zugänge, um Wissen, Lernweg und Lernziel mitenander zu verknüpfen und mit der Aufgabe starten (und letztendlich auch um sie abschließen) zu können. Lehrer sollten wenn möglich Zugänge auf verschiedenem Wege anbieten: Videos, visuelles Bildmaterial zur Unterstützung, Material zum Legen/Anfassen, Aufgabenstellung zum wiederholten Anhören usw.

4) Runterkommen, nicht ärgern und nicht dauernd ermahnen: Damit gerät man in einen Teufelkreis, bei dem sich das Kind bestenfalls verschließt und sich immer wieder selbst entäuscht. Stattdessen loben, wo es gelobt werden kann. So wird der Teufelskreis durchbrochen und eine gute Beziehung aufgebaut, die auf Respekt und dem Leitsatz: “Ich sehe dich!” beruht.

5) Strukturen visualisieren, sodass der Schüler immer weiß, in welcher Phase man sich befindet und was erwartet wird.

6) Einen festen Einzelsitzplatz finden: Der Tisch sollte so stehen, dass der Schüler volles Mitglied der Klassengemeinschaft ist, aber gleichzeitig möglichst wenig Reize empfängt. Damit das Kind sich nicht ständig umdrehen muss, kann es ratsam sein, ruhige Kinder hinter es zu sitzen. Hilfreich kann es sein, dem Schüler zu erlauben, eine Cappi zu tragen, da so das Sichtfeld begegrenzt ist. Auch Ohrenschutz kann ggf. hilfreich sein. Möglicherweise hilft es auch, dass der Schüler die Möglichkeit hat, in der Arbeitsphase die Position zu variieren: Sitzen, stehen, liegen…

7) Ansprüche runterschrauben: Was für andere Kinder selbstverständlich ist, ist für Kinder mit ADHS eine anstrengende Leistung. Das gilt fürs Stillsitzen, genau wie für das nicht Dazwischenrufen.

8) In den Konsequenzen klar sein: ADHS-Kinder agieren selten böswillig. Häufig wissen sie selbst nicht, warum sie etwas Doofes getan haben. Wenn ein Schüler mit ADHS einen Bleistift zerbricht, muss er den ersetzen. Wenn er einen Gegenstand bemalt, muss er das reinigen, wenn er jemandem wehtut, muss er eine Wiedergutmachung leisten. Da ehrlich und empathisch sein zu den großen Stärken vieler ADHSler gehört, sehen sie im Nachhinein meist ein, dass ihr Verhalten schadhaft war.

Es gibt Experten, die davon ausgehen, dass jetzt gerade genau das richtige Zeitalter für Menschen mit ADHS ist, weil deren Eigenschaften ihnen in der digitalen Welt zugute kommen und deren Kreativität, das visuelle Lernen und die komplexen Denkvorgänge ihnen Vorteile in diesem Bereich bringen. Fun Fact: Die Steinzeit war schon einmal die Zeit von Menschen mit ADHS. Fürs Jagen und Sammeln waren diese Fähigkeiten auch von großem Nutzen.

Quellen: Winter, Barbara: AD(H)S ist kein Fluch, sondern Segen

http://www.zentrales-adhs-netz.de

http://www.spektrum.de

http://www.adhs-ratgeber.com

* Selbstverständlich gibt es auch Mädchen und Frauen mit ADHS. Um den Lesefluss zu erleichtern, gendere ich “Schüler” in diesem Text nicht, es sind aber alle Geschlechter gemeint.

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